Häusliche Gewalt: Ärztinnen und Ärzte oft die erste Anlaufstelle

Ärztinnen und Ärzte sind oft die erste Anlaufstelle, bei denen Opfer häuslicher Gewalt Hilfe suchen. Im Erkennen der Misshandlungen und der Unterstützung der Opfer fällt der Ärzteschaft eine Schlüsselrolle zu. Zu diesem Ergebnis kamen Referenten und Teilnehmer der Fortbildungsveranstaltung zum Thema „Häusliche Gewalt“, zu der die Landesärztekammer Baden-Württemberg zusammen mit dem Sozialministerium und dem Innenministerium am Wochenende nach Stuttgart geladen hatte.

„Unsere Aufgabe ist es, Verletzungsmuster zu erkennen, zu dokumentieren, Gespräche anzubieten und weitere Hilfsangebote zu vermitteln“, so Kammerpräsidentin Dr. Ulrike Wahl zum Auftakt der Veranstaltung, bei der auch der neue Leitfaden „Häusliche Gewalt“ der Landesärztekammer Baden-Württemberg vorgestellt wurde. Die Broschüre zum Umgang mit Patientinnen und Patienten, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, beschreibt die Symptome, auf die zu achten ist. Sie gibt Hinweise für die Gesprächsführung mit den traumatisierten Opfern , überwiegend Frauen. Und sie enthält einen heraustrennbaren Dokumentationsbogen sowie einen umfangreichen Adressteil, damit Patientinnen weitere Hilfsangebote vermittelt werden können.

„Das Schweigen der Opfer bedeutet in den wenigsten Fällen, dass ein Gespräch nicht gewünscht wird“, weiß Kriminaloberrat Uwe Stürmer, einer der Referenten bei der Fortbildungsveranstaltung. Stürmer – im baden-württembergischen Innenministerium für Kriminalprävention und Gewaltkriminalität zuständig – betonte, dass das Ansprechen von Gewaltproblemen durch Ärztinnen und Ärzte zum Teil entscheidender Anstoß zur Veränderung der Situation war. Er rät Ärzten, die Verletzungen „gerichtsfest“ in Wort und Bild zu dokumentieren. Die Tatsache, dass Beweise außerhalb des Täterzugriffes vorhanden seien, verbessere entscheidend die Position des Opfers.

Eine wichtige Rolle der Ärzteschaft sieht Stürmer in der Mittlerfunktion zwischen Patientinnen und Patienten und Hilfs- und Beratungsstellen: Er empfiehlt, jedem Arzt /jeder Ärztin zu klären, welche psychosozialen Beratungsstellen und Notfalleinrichtungen für Opfer häuslicher Gewalt vor Ort vorhanden sind. Ideal ist auch die Auslage von Informationsmaterialien im Wartezimmer.

Häusliche Gewalt ist kein augenblickliches Geschehen, die Opfer sind oft über Jahre hinweg Misshandlungen ausgesetzt. Dies betonte Dr. Ursula Matschke, als Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Stuttgart unter anderem für die Zusammenarbeit von Beratungsstellen, Polizei und Staatsanwaltschaft zuständig. Gerade Ärztinnen und Ärzte haben in ihren Augen die Chance, die betroffenen Frauen möglichst früh zu erreichen und als Multiplikatoren unter anderem über die Auswirkungen auf die Kinder zu informieren: Viele Kinder schämten sich für die Situation, reagierten mit sozialem Rückzug. Außerdem beeinträchtige die ständige Angst ihr Hirnwachstum und ihre Entwicklung. Dies – so Matschke, sei oft der einzige Sachverhalt, der Eindruck auf die Täter mache und so vielleicht neuen Straftaten vorbeuge.

Dass Ärztinnen und Ärzte meist früher als Beratungsstellen oder Polizei mit den Opfern in Kontakt kommen, davon ist auch die Freiburger Staatsanwältin Heidi Winterer überzeugt. „Sie können nachfragen, ob es wirklich der Treppensturz war, der zu den Verletzungen geführt hat – oder nicht etwas anders. Und sie können die Opfer ermutigen, zur Polizei zu gehen, initiativ zu werden“. Die gesetzlichen Rechte von Opfern häuslicher Gewalt seien – so Winterer weiter – mit dem Gewaltschutzgesetz und der Verankerung des Grundsatzes „Der Schläger geht, das Opfer bleibt“ seit dem 1. Januar 2002 deutlich gestärkt worden. Hier bestehe allerdings großer Beratungsbedarf, da vielen Frauen die Existenz dieses Gesetzes und die dadurch eröffneten Möglichkeiten noch nicht bekannt seien Als besonders problematisch bei der Strafverfolgung von Gewaltdelikten im familiären Nahbereich bezeichnet die Staatsanwältin, die eine Spezialzuständigkeit bei der Freiburger Staatsanwaltschaft für Fälle Häuslicher Gewalt wahrnimmt, die soziale Nähe zwischen Opfer und Täter: So sei das Opfer zwischen der Tat und einem möglichen Gerichtsprozess in besonderem Maße dem Einfluss des Täters ausgesetzt, der meist Besserung verspreche, was das Opfer wiederum gern glauben wolle.

Dr. Gisela Dahl, Vorsitzende der Stuttgarter Ärzteschaft, berichtete aus der Sicht einer Hausärztin: Sie betonte, dass es nicht nur Frauen sind, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Auch Kinder und alte Menschen gehören zu den Opfern. In ihrer 31-jährigen Praxis habe sie auch Männer erlebt, die von ihrer Partnerin misshandelt wurden. Gerade das „starke Geschlecht“ könne besonders wenig über die Gewalterfahrungen sprechen, weil das überhaupt nicht mit der Rolle des Familienoberhauptes und -beschützers vereinbar sei. Eine besondere Problematik sieht sie in dem Rollenverständnis fremder Kulturkreise.

Die Fortbildung am Samstag war als Auftaktveranstaltung konzipiert. Um möglichst viele Ärztinnen und Ärzte zu erreichen, soll sie nun in die Ärzteschaften vor Ort multipliziert werden.

Hinweis für die Redaktionen:

Der Leitfaden "Häusliche Gewalt" für Ärztinnen und Ärzte ist online zu finden unter http://www.aerztekammer-bw.de/gewalt

Stand: 18.10.2004

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letzte Änderung am 18.10.2004